Am Himmel tummelten sich die letzten dicken Wolken des vergangenen Sturmes. Im Wasser spiegelten sich die klaren Sterne. Am anderen Ufer des Sees tauchte der große Februarmond das verlassene Bauernhaus in silbrig-kaltes Licht. Nur als scharfe Kontour sah man im Hintergrund die alte Buche. Ob sie mein Geheimnis so gut bewahrt hatte wie ich die Erinnerung? Leicht lächelnd ruderte ich weiter. Wie lange war ich nicht mehr hier gewesen? Es mussten etliche Jahre gewesen sein, denn als ich das Ufer erreichte sah ich die zerborstenen Fenster. Keines hatte die Zeit überstanden. Im Stamm der Buche zeugten ein paar rostige Nägel in unmöglichen Abständen noch von der regelmäßigen Leiter, die einst in die mächtige Krone führte. Der Baum hatte damals schon ein stolzes Alter. Daß er immer noch lebte und wuchs...
Im Schein der alten Petroleumlampe, die ich an der immernoch gleichen Stelle unter dem Anlegesteg fand, vertäute ich mein Boot und suchte mir einen Platz für meinen Schlafsack. Das Haus würde ich erst am nächsten Morgen betreten. Diese Nacht wollte ich die Sterne sehen.
Erst in den frühen Morgenstunden, als die Sterne am Himmel bereits zu verblassen begannen, schlief ich ein. Es war ein leichter und traumloser Schlaf, mehr ein Dösen, das mit den ersten echten Sonnenstrahlen ein Ende fand. Ohne Eile packte ich den Schlafsack zusammen und trug ihn mitsamt meinem Rucksack zum Eingang. In dem kleinen ehemaligen Hühnerstall fand ich zu meiner Freude den alten Spirituskocher wieder, den ich damals dort zurückgelassen hatte. Sehnsüchtig strich ich über die angerosteten Bügel und träumte mich zurück. Zurück zu endlosen Nächten unter der Buche. Nächten mit meinen Freunden. Wir redeten, lachten, stritten, feierten. Und wir verloren einander als wir erwachsen wurden. Oh, wir sind immer noch Freunde, ein paar von uns verheiratet, andere nicht, doch wir sind nicht mehr die unbeschwerten Seelen von damals. Jeder von uns hat seine Erinnerungen an damals mitgenommen. Aber wir sind erwachsen geworden. Manchmal glaube ich das ich die einzige bin die sich das Herz eines Kindes bewahrt hat. Dann fühle ich mich einsam und traurig. Und manchmal sehe ich in den Augen der anderen den Wiederschein der Erinnerung. Die Trauer das es vorbei ist und das energische Beiseiteschieben der Sehnsucht tun weh. Sie halten sich an ihrer erwachsenen Weltsicht fest, erlauben sich nicht mehr zu träumen. In solchen Momenten möchte ich fliehen. Fliehen vor dem Leben und dem Unvermeidlichen.
Irgendwann legte ich den Kocher auf Seite, mittlerweile hatte ich ihn gereinigt und auf seine Funktionstüchtigkeit überprüft. Auch nach so langer Zeit beherrschte ich die Handgriffe noch im Schlaf. Anschließend ging ich zur Buche, blickte hinauf in ihre mächtige Krone und eh ich mich versah kletterte ich hinauf. Erst hoch oben im Geäst hielt ich inne und sah über den See, die umliegenden Felder des Hofes und den dahinter beginnenden Wald. Auf den ersten Blick schien sich nichts verändert zu haben, doch beim zweiten Hinsehen entdeckte ich die kleinen Veränderungen, die den Lauf der Jahre beschrieben. Hier ein paar Bäume, deren Samen ich noch eigenhändig in den weichen Boden gedrückt hatte, dort ein alter Baum, der umgestürzt war, daneben der Zaun den wir in einem Sommer reparierten und der nun wieder vermodert und zerfallen dalag...
Während ich mich umsah glitten meine Gedanken zu dem Grund der mich hierhergeführt hatte. Ich nahm Abschied. Abschied von den vertrauten Orten meiner Kindheit, meines bisherigen Lebens. Wann und ob ich zurückkehren würde wusste ich nicht. Ich wusste nur das es jetzt erst einmal fort ging. Fort in eine Gegend die fremd und reizvoll war. Fort mit dem Mann den ich liebte. Doch der Preis war der Abschied. Vorerst. War es mir das wert? War ER es mir wert das ich meine Wurzeln löste und woanders versuchte Fuß zu fassen?
Eine Weile dachte ich an nichts. Dann merkte ich wie mein Herz ihn bereits zaghaft zu vermissen begann. Das reichte als Antwort. Die Antwort, die ich hier gesucht hatte lag nun offen vor mir. Er war es mir wert das vertraute Terrain aufzugeben. Das Abenteuer zu wagen. Auch wenn wir uns streiten sollten. Ich wollte nicht mehr ohne ihn leben. Er gab mir den ruhigen Pol den ich brauchte. Trotzdem trauerte ich. Denn dieser Schritt bedeutete auch das ich mich wieder ein wenig mehr von der Kindheit entfernte, auch mein Herz wurde erwachsen und würde eines Tages nicht mehr das Herz eines Kindes sein. Mit Tränen in den Augen kletterte ich vom Baum und ging ins Haus. Als es vor ein paar Jahren abgerissen werden sollte hatte ich es gekauft. Ich wusste damals nur das ich es nicht ertragen würde wenn es fort wäre. Ich wusste noch nicht was ich damit tun sollte, doch jetzt, als ich so durch die Räume strich, wurde mir klar wovon ich schon lange geträumt hatte. Vor meinem inneren Auge erstrahlten die Zimmer in neuer Pracht, in der Bibliothek reihte sich Buch an Buch und im Kamin prasselte ein fröhliches Feuer. Im Arbeitszimmer herrschte wildes Durcheinander und neben dem Zeichenbrett stand der PC, der für meine Arbeit mittlerweile unerlässlich war.
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